Samstag, August 2, 2025

Starmer, die EU und das „Jugenderfahrungsprogramm“ – Wie Großbritannien migrationspolitisch zurück in die Vergangenheit driftet

by Julian Schröder

Mit dem neuen „Jugenderfahrungsprogramm“ zwischen Großbritannien und der Europäischen Union setzt Premierminister Keir Starmer auf eine politisch geschickte Neujustierung der Beziehungen nach dem Brexit – und umgeht dabei zugleich wesentliche Elemente seiner zuvor angekündigten Migrationspolitik. Während er außenpolitisch mit Donald Trump auf Kurs bleiben will, öffnet er innenpolitisch eine Tür, die viele als Rückkehr zur EU-Freizügigkeit verstehen – auch wenn dies offiziell vehement bestritten wird.

Der vermeintliche Kurswechsel in der britischen Migrationspolitik war deutlich: Keir Starmer, der sich im Wahlkampf und zu Beginn seiner Amtszeit als pragmatischer, migrationskritischer Modernisierer präsentiert hatte, kündigte eine restriktivere Einwanderungspolitik an. Diese Ankündigungen erfolgten nicht im politischen Vakuum – sie waren Teil eines außenpolitischen Deals mit den USA, bei dem Präsident Donald Trump die Reduzierung von Migrationsbewegungen zur Bedingung für neue Handelsabkommen machte. Starmer griff diese Linie auf und versprach, die Zuwanderung zu begrenzen – zumindest auf dem Papier.

Gleichzeitig liefen jedoch Verhandlungen mit der Europäischen Union, die nun in einem Rahmenabkommen mündeten, das unter anderem ein „ausgewogenes Jugenderfahrungsprogramm“ vorsieht. Dieses soll es jungen Menschen unter 30 aus Großbritannien und der EU ermöglichen, für befristete Zeit zu arbeiten, zu studieren, sich freiwillig zu engagieren oder zu reisen – mit vereinfachtem Visumspfad. Doch der Teufel steckt im Detail: Von „begrenzter Zeit“ ist die Rede, jedoch nicht von begrenzter Teilnehmerzahl. Die Absprache lässt weitreichenden Interpretationsspielraum – und genau hier beginnt die politische Brisanz.

Kritiker wie Nigel Farage sehen in dem Programm eine „verkappte Rückkehr der Freizügigkeit“, also jene Errungenschaft der EU, die viele Brexit-Befürworter als ein Symbol mangelnder britischer Souveränität empfanden. Die neue Regelung ermögliche es, Migranten, die sich derzeit legal in EU-Staaten aufhalten, auf legalem Wege nach Großbritannien zu bringen. Besonders problematisch erscheint dabei der Umstand, dass das Programm im Kontext wachsender Migrationsbewegungen aus Drittstaaten nach Europa verhandelt wird – ein Aspekt, der viele Briten an den Grundfesten des Brexit zweifeln lässt.

Tatsächlich verweist vieles darauf, dass Starmer mit dem neuen Abkommen die migrationspolitischen Restriktionen außenpolitisch aufrechterhalten will, während er sie durch ein bilaterales Abkommen mit der EU faktisch unterläuft. Das lässt sich auch daran erkennen, dass der Premier bislang Mobilitätsabkommen mit Brüssel stets abgelehnt hatte – aus dem gleichen Grund, den seine Gegner ihm nun vorwerfen: Sie seien funktional gleichbedeutend mit Freizügigkeit. Nun jedoch wurde das Konzept unter einem anderen Namen und mit einem scheinbar harmlosen Anwendungsbereich eingeführt.

Offiziell sollen durch die Einigung Handelshemmnisse reduziert, regulatorische Standards angeglichen und sicherheitspolitische Kooperationen ausgebaut werden. Doch der symbolische Gehalt der Vereinbarung geht weit darüber hinaus. Starmer spricht von einer „neuen Ära der Beziehungen“, Ursula von der Leyen von einem „historischen Moment“. Diese Rhetorik lässt Kritiker aufhorchen. Nicht wenige werten die Entwicklung als einen stillen Paradigmenwechsel – nicht nur in der britischen Migrationspolitik, sondern auch in der britischen Souveränitätspolitik insgesamt.

Gerade unter Anhängern der Reformpartei und konservativen Brexit-Befürwortern ruft das neue Abkommen Widerstand hervor. In ihrer Lesart markiert es den Beginn einer schleichenden Wiederannäherung an die Europäische Union – eine Bewegung, die im offiziellen Diskurs nicht offen ausgesprochen wird, aber faktisch neue Abhängigkeiten schafft. Denn Mobilität, das zeigt die Geschichte des Binnenmarkts, ist nie neutral: Sie zieht wirtschaftliche, soziale und kulturelle Dynamiken nach sich – auch migrationspolitische.

Besonders kritisch sehen viele Beobachter den möglichen Missbrauch des neuen Visumpfads durch Drittstaatenangehörige, die sich bereits in der EU aufhalten. Gerade vor dem Hintergrund fehlender Einigkeit über ein wirksames europäisches Außengrenzenregime, und angesichts wachsender sekundärer Migrationsströme, birgt das neue Modell erhebliches Potenzial für politische Spannungen im Vereinigten Königreich. Starmer riskiert, die hart erkämpften politischen Mehrheiten im eigenen Land gegen sich aufzubringen – nicht nur in der Migrationsdebatte, sondern auch in Fragen nationaler Souveränität.

Dass diese Entwicklung in Europa mit Erleichterung aufgenommen wird, überrascht kaum. Der Austritt Großbritanniens war nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch ein empfindlicher Schlag für das Selbstverständnis der EU. Eine schrittweise Wiederannäherung unter dem Deckmantel bilateraler Abkommen bedeutet für Brüssel nicht weniger als einen strategischen Etappensieg. Für London hingegen steht viel auf dem Spiel: die Glaubwürdigkeit einer Regierung, die das Versprechen nationaler Kontrolle zum Zentrum ihrer Politik gemacht hatte.

Es bleibt offen, ob das „Jugenderfahrungsprogramm“ tatsächlich zum Einfallstor für eine neue Welle legaler Migration wird – oder ob es sich nur um ein symbolisches Instrument handelt, das weder in Zahlen noch in Wirkung das Niveau der früheren EU-Freizügigkeit erreicht. Doch die politischen Signale, die davon ausgehen, sind deutlich: Die Migrationsdebatte in Großbritannien ist alles andere als beendet. Vielmehr tritt sie in eine neue Phase, in der Begriffe wie „Mobilität“ und „Erfahrungsaustausch“ zum Synonym einer weitaus größeren politischen Bewegung werden – einer, die den Brexit nicht revidiert, aber stillschweigend neutralisiert.

© 1997—2025 widerspruch-news.de. Alle Rechte vorbehalten.          Impressum