Freitag, Juni 6, 2025

Messer, Macht, Migration – Wenn Kinder zu Tätern werden

by Julian Schröder

Ein 12-jähriger Schüler liegt mit einer Stichwunde am Hals im Krankenhaus, ein 13-jähriger Tatverdächtiger ist flüchtig. Nur wenige Stunden später wird in Nordrhein-Westfalen ein weiterer Junge mit einem Küchenmesser schwer verletzt. Die Tatverdächtigen: Kinder. Die Tatwaffe: ein Messer. Der Ort: deutsche Schulen. Was vor Jahren noch unvorstellbar war, ist heute Realität geworden – Gewalt unter Kindern, getragen von Klingen, eskaliert in aller Öffentlichkeit.

Die jüngsten Vorfälle in Berlin, Remscheid und Oldenburg sind mehr als nur tragische Einzelfälle. In Berlin soll ein 13-jähriger Junge seinen 12-jährigen Klassenkameraden während eines Streits in der Umkleidekabine schwer verletzt haben. Blutüberströmt rannte das Opfer auf den Schulhof, eine Notoperation rettete sein Leben. In Remscheid stach ein 11-jähriger Schüler auf einen 13-jährigen ein, offenbar im Verlauf einer zuvor verabredeten Auseinandersetzung. Das Jugendamt sah trotz früherer Betreuung keinen Handlungsbedarf für eine Inobhutnahme. Das Kind wurde den Eltern übergeben.

Diese Taten markieren eine Entwicklung, die sich nicht länger leugnen lässt: Messerangriffe unter Jugendlichen haben drastisch zugenommen. Laut offizieller Statistik sind allein im Jahr 2024 bereits über 29.000 Fälle erfasst worden – rechnerisch mehr als 79 pro Tag. Die tatsächliche Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. Insbesondere das Mitführen und Verwenden von Messern hat sich bei vielen Jugendlichen zu einer alltäglichen Praxis entwickelt. Der bekannte Strafrechtler Udo Vetter spricht von einem „Wettrüsten“ im Alltag junger Menschen, bei dem das Messer neben dem Smartphone zur Grundausstattung gehört – teils zur Einschüchterung, teils zur vermeintlichen Selbstverteidigung.

Diese Entwicklung ist eingebettet in ein komplexes gesellschaftliches Umfeld. Experten weisen seit Jahren darauf hin, dass strukturelle Versäumnisse in der Integrationspolitik, zunehmende soziale Segregation und mangelhafte Präventionsarbeit an Schulen eine gefährliche Mischung erzeugen. Die Überforderung vieler Bildungseinrichtungen, in denen kulturelle, soziale und sprachliche Unterschiede aufeinandertreffen, ist evident. Lehrer berichten von wachsender Aggression, Respektlosigkeit und einer geringen Schwelle zur Gewalt – nicht selten unter dem Einfluss familiärer oder medialer Vorbilder, die Gewalt als Mittel der Selbstbehauptung romantisieren.

Dabei handelt es sich nicht nur um ein deutsches Phänomen. Auch in anderen europäischen Ländern wird über eine ähnliche Eskalation berichtet. Doch während etwa in Frankreich oder Skandinavien öffentlich über Ursachen, strukturelle Fehler und notwendige Reformen debattiert wird, verläuft die Diskussion in Deutschland vielfach emotionalisiert und polarisiert. Politische Lager stehen sich unversöhnlich gegenüber, während die Praxis an der Basis – in Schulen, Jugendämtern und Polizeistationen – immer häufiger an Grenzen stößt.

Vor diesem Hintergrund erscheint auch der Fall des somalischen Asylbewerbers Abdirahman Jibril A., der 2021 in Würzburg drei Frauen erstach, als ein Beispiel für einen Staat, der in seiner Antwort auf extreme Gewalt zwischen Schutz und Kapitulation schwankt. Die gegenwärtige Diskussion um eine mögliche Entlassung aus dem Maßregelvollzug zeigt, wie sehr auch hier die juristische Bewertung, der politische Wille und das öffentliche Sicherheitsbedürfnis in Spannung geraten sind.

Der Vertrauensverlust in die staatliche Handlungsfähigkeit wächst. Viele Bürger erleben ein Ohnmachtsgefühl angesichts der scheinbaren Straflosigkeit von Tätern, insbesondere wenn diese minderjährig sind oder unter psychiatrischen Schutz gestellt werden. Zugleich zeigen sich Behörden oft unfähig oder unwillig, präventiv einzugreifen, etwa durch konsequente Betreuung gefährdeter Familien, eine stärkere Durchsetzung von Schulpflichten oder die konsequente Sanktionierung von Gewalt an Schulen.

Was also bleibt? Die Wiederherstellung der inneren Sicherheit und einer tragfähigen Ordnung in Bildungseinrichtungen wird zur politischen Aufgabe von höchster Dringlichkeit. Dazu gehören nicht nur repressiv wirkende Maßnahmen, sondern auch nachhaltige Investitionen in Sozialarbeit, Bildung und Integration. Politische Führung ist gefordert, die Sicherheit von Kindern – aller Kinder – zum Maßstab ihres Handelns zu machen.

Denn wenn schon Grundschüler beginnen, sich gegenseitig mit Messern anzugreifen, dann steht nicht weniger auf dem Spiel als die Zukunft einer Gesellschaft, die ihre jüngsten Mitglieder weder schützt noch erreicht. Der Staat darf dabei nicht Zuschauer bleiben – und Politik nicht Sprachrohr parteilicher Reflexe. Was jetzt zählt, ist nüchterne Analyse, entschlossene Handlung und eine öffentliche Debatte, die den Ernst der Lage endlich anerkennt.

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