Samstag, Juni 7, 2025

Stich in die Rechtssicherheit – der Neuköllner Messerangriff auf einen Polizisten und seine juristischen Folgen

by Lara Reuter

Ein 28-Jähriger verletzte am Freitagabend vor dem Polizeiabschnitt 55 in Berlin-Neukölln einen 31-jährigen Beamten mit einem Messer am Hals lebensgefährlich – nur vier Stunden später war der Tatverdächtige wieder auf freiem Fuß. Der ungewöhnlich rasche Haftverzicht hat eine Debatte über die Belastbarkeit des Berliner Strafverfolgungssystems ausgelöst.

Kurz nach 22 Uhr wollte der Mann eine Anzeige erstatten, verließ aber frustriert das Gebäude, zerkratzte mit einem Messer einen Streifenwagen und geriet vor laufenden Überwachungskameras mit einem uniformierten Beamten aneinander. In der Rangelei traf die Klinge den Polizisten im Hals; eine Not-OP rettete ihm das Leben. Am Tatort sicherte eine Mordkommission Spuren, nahm den Verdächtigen fest und führte ihn der Dienststelle zu.

Um 02 : 15 Uhr hob dieselbe Mordkommission die Festnahme wieder auf. Grundlage war eine erste Sichtung des Videomaterials: Darauf sei keine eindeutige Stich- oder Schnittbewegung zu erkennen, erklärte Justizsenatorin Felor Badenberg (CDU). Da weder Flucht- noch Verdunkelungsgefahr vorgelegen habe und ein „dringender Tötungsverdacht“ fehle, seien die U-Haft-Kriterien nicht erfüllt gewesen. Die Staatsanwaltschaft, die erst drei Stunden später informiert worden sei, schloss sich der Entscheidung an.

Die Freilassung stieß sofort auf scharfe Kritik. SPD-Innenpolitiker Martin Matz äußerte „überhaupt kein Verständnis“ dafür, wie ein lebensbedrohlicher Halsstich nicht als gezielter Angriff gewertet werden könne. Die Gewerkschaft der Polizei sprach von einem „desaströsen Signal an Gewalttäter“ und forderte bundesweite Mindeststandards für Untersuchungshaft bei Angriffen auf Einsatzkräfte.

Juristisch liegt der Kern des Streits in § 112 StPO: Untersuchungshaft darf nur angeordnet werden, wenn ein dringender Tatverdacht sowie besondere Haftgründe – etwa Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr – vorliegen. Anders als bei vollendetem Totschlag greift die automatische Haftanordnung des § 112 Abs. 3 StPO hier nicht, solange die Ermittler „nur“ von gefährlicher Körperverletzung ausgehen. Kritiker verweisen jedoch darauf, dass bei Messerangriffen in lebenswichtige Bereiche regelmäßig ein bedingter Tötungsvorsatz vermutet werde – ein Argument, das spätestens ein Ermittlungsrichter hätte prüfen können.

Der Fall trifft auf ein ohnehin erhitztes Klima. Einen Tag zuvor war in Neukölln ein Beamter bei einer propalästinensischen Demonstration von mehreren Tätern bewusstlos geprügelt worden. Laut Berliner Polizeistatistik wurden 2024 im Schnitt 29 Polizisten pro Tag Opfer von Gewalt; bundesweit stiegen die registrierten Angriffe auf Einsatzkräfte 2023 auf mehr als 46 000 – ein Plus von acht Prozent.

Politisch verengt sich der Spielraum: Die CDU wirbt im Bundestag für eine „Beweislastumkehr“ bei Angriffen mit gefährlichen Gegenständen, die SPD-geführte Innenverwaltung setzt auf mehr Deeskalations-Training, während die Berliner Justizsenatorin an den bestehenden Haftschwellen festhält. Zugleich prüft die Landesregierung ein Sonderdezernat für Delikte gegen Vollstreckungsbeamte, um Bearbeitungszeiten zu verkürzen und Beweismittel schneller richterlich bewerten zu lassen.

Ob der Neuköllner Stich als versuchter Mord oder „nur“ als gefährliche Körperverletzung endet, entscheidet sich an den kommenden Gutachten – am öffentlichen Vertrauensverlust ändert das wenig. Denn für viele Bürger bleibt der Eindruck, dass ein Rechtsstaat, der Halsstiche auf Beamte binnen Stunden relativiert, seine eigene Autorität unterminiert. Die Debatte um strengere Haftregeln ist damit nicht beendet, sondern gerade erst eröffnet.

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